Einzelnen Beitrag anzeigen
  #1  
Alt 19.01.2016, 18:08
Benutzerbild von Egbert
Egbert Egbert ist offline
Lebende Foren Legende
 
Registriert seit: 20.12.2009
Ort: Dreieich
Alter: 60
Land:
Beiträge: 9.627
Abgegebene Danke: 14.152
Erhielt 16.636 Danke für 6.464 Beiträge
Member Photo Albums
Aktivitäten Langlebigkeit
12/20 15/20
Heute Beiträge
1/3 sssss9627
Weiterentwicklung Mephisto Glasgow - alles nur ein Traum, oder doch mehr?

Hallo Schachcomputer Freunde,

die meisten von Euch wissen welch großer Fan ich von Thomas Nitsches Mephisto Glasgow bin, mein Revelation II Begrüßungsturnier zeugt hiervon Einhergehend habe ich die umfangreichen Testarbeiten mit diesem einzigartigen Programm mit einem Traum verbunden, der Weiterentwicklung des Mephisto Glasgows.


Ich weiß dass einige in unsere Community diesen Traum teilen. Dies hat mir keine Ruhe gelassen und ich habe heute Kontakt zu Thomas Nitsche gefunden, welcher mit ausgesprochen freundlich antwortete und mir einen kleinen unverbindlichen Einblick in seine Gedanken/Projekte und Pläne erlaubt hat.

Herr Nitsche hat mir sein ausdrückliches Einverständnis gegeben, seine Antwort zu veröffentlichen, verknüpft mit dem Hinweis, dass er selbstverständlich nichts versprechen kann..., aber...

Voran schicken möchte ich meine unbedeutende Anfrage, der interessante Teil kommt dann ganz zum Schluss- die Antwort von Herrn Nitsche


Sehr geehrter Herr Nitsche,

bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie so direkt anschreibe. Anfang der 80-iger Jahre haben Sie zusammen mit Herrn Henne erfolgreich Schachprogramme für Mephisto I, Mephisto II, Mephisto III und den Weltmeister von 1984 Mephisto Exclusive S Glasgow entwickelt. Die ausgesprochen selektive Suchmethode mit ihrem menschenähnlichen Spielstil konnte mich von je her begeistern. In unsere Community https://www.schachcomputer.info/forum/portal.php
…genießt der Mephisto Glasgow S absoluten Kult-Status. Ich selbst bin zwar nicht mehr in Besitz dieses wunderbaren Computers, allerdings einer Emulation des Motorola 68000, welche auf dem Revelation II ca. 15 x schneller als auf dem damaligen Weltmeistergerät läuft. http://www.phoenixcs.nl/index.php/en...ii-chess-board
Derzeit führe ich einen Vergleichswettkampf auf Turnierstufe der Mephisto Glasgow Emulation gegen diverse Schachcomputer durch: https://www.schachcomputer.info/foru...nier-4931.html
Aber warum erzähle ich Ihnen das alles? Wie bereits oben kurz erwähnt, bin ich vom dem Spielstil Ihres Glasgow-Programms noch heute fasziniert, auch viele andere in unserer Community „lieben“ den fast „menschlichen Spielstil“. Und auf so schneller Hardwarebasis wie dem Revelation II, wird auch die durch den sehr selektiv bedingten Suchalgorithmus verursachte taktische Anfälligkeit etwas entschärft.
Vielleicht ermüden Sie meine Zeilen etwas und daher komme ich einfach zu meiner Frage an Sie. Ich habe einen Traum…, könnten Sie sich nach gut 30 Jahren „Pause“ vorstellen, Ihr Programm weiter zu entwickeln (vielleicht sogar auf Basis des Revelation II) ? Ich weiß, aus kommerzieller Sicht ist das sicherlich nicht besonders lukrativ, es wäre in der Schachcomputerszene jedoch eine Sensation und ein Beweis, dass der Geist der Schachcomputer noch lebt. Übrigens: Ossi Weiner und Richard lang sind auch wieder aktiv und es wurde der Schachcomputer ChessGenius entwickelt. Mit großem Bedauern hatte ich Mitte der 80-er Jahre vernommen, dass Sie der Schachprogrammierung den Rücken gekehrt haben und ich bin der festen Überzeugung dass Sie Ihr Programm im Falle einer Weiterentwicklung wesentlich verstärken könnten.
Zwischenzeitlich habe ich den Revelation II Mephisto Glasgow (entspricht in etwa dem Mephisto Glasgow auf einem 68030 mit ~ 66 MHz!) gegen 10 verschiedene Schachcomputer mit ähnlicher Spielstärke spielen lassen. Nachstehend das vorläufige Resümee, welches ich auf in unserer Community veröffentlicht habe:

200 Turnierpartien gegen 10 unterschiedliche Gegner liegen nun hinter dem Revelation II Mephisto Glasgow. Die Gegnerschaft lag im Bereich von ca. 1850 - 2050, gemäß unserer "Turnier Elo Liste". Dabei scorte das Gerät beachtlich, mit einer Ausbeute von 102,5:97,5.

Anfangs stürmte das Gerät sogar über die "erhoffte Traumgrenze" von über 2000 Elo, letztendlich konnte dieser Wert jedoch nicht gehalten werden, selbst die 1950 Elo dürften nicht ganz erreicht sein. Dennoch..., der Mephisto Glasgow auf dem Revelation II spielt in dieser Gewichtsklasse voll mit. Auf der anderen Seite reifte jedoch auch die Erkenntnis, dass eine weitere Anhebung der Geschwindigkeit, durch eine noch schnellere Hardware-Plattform, ohne umfangreiche Programmanpassungen fast wirkungslos verpuffen würde. Die Programmstruktur des Mephisto Glasgow ist auf dem Revelation II praktisch ausgereizt.

Der Wettkampf hat mir unglaublich viel Spaß bereitet und ich hoffe dass der ein oder andere Nostalgiker und Mephisto Glasgow-Fan auch seine Freude daran hatte. Im Folgenden versuche ich einmal eine Gesamt-Zusammenfassung aller 10 Wettkämpfe, mit allen positiven wie negativen "Charakter-Eigenschaften" des Programms zu spiegeln:

Positiv:

+ Überwiegend gesunde Eröffnungsbehandlung

+ Überwiegend positionell ansprechende Spielführung

+ Für ein Programm aus dem Jahr 1984 erstaunlich planvolle, menschlich anmutende Zugfolgen

+ Aktive Suche nach Remis-Schwindelchancen in unterlegenen Stellungen

+ In Gewinnstellungen versteht es Mephisto Glasgow meist gut zu vereinfachen

+ Spielt vereinzelt auch taktisch brillante Kombinationen

+ Teilweise werden die Umwandlungs-Chancen eigener Freibauern über die selektive Such sehr weit im Voraus berechnet

+ Spielstil ist immer wieder für Überraschungen gut

+ Trotz der massiven Beschleunigung durch den Revelation II darf nicht vergessen werden, wie extrem selektiv die Züge vom Mephisto Glasgow berechnet werden, was mehr wie beeindruckend ist!



Negativ:

- Eröffnungsrepertoire mit einigen Lücken und nicht optimal an den eigenen Spielstil angepasst

- Taktische Blackouts, insbesondere bei "stillen Zügen" sind keine Seltenheit

- Die selektive Komponente greift im Allgemeinen zu selten

- Königssicherheit wird nicht ausreichend berücksichtigt und bewertet

- Unterschätzung von Fesselungen

- Fehlende Programmstrategien für Räumungsopfer

- Fehlende Programmstrategien für Blockadeopfer

- Fehlende Programmstrategien für Bauerndurchbrüche

- Fehlende Programmstrategien für eigene Königsangriffe

- Unterschätzung von Grundlinienschwächen

- Motiv des Erstickungsmatt ist nicht bekannt

- Turmverdopplungen, insbesondere auf der 2. und 7. Reihe wird nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet

- Springer am Rand..., für den Glasgow generell keine Schand

- Dame wird in einigen Fällen in der Eröffnungsphase zu oft gezogen, bzw. in bedrohliche Positionen gebracht

- Ab und an werden (Rand)-bauern ohne jegliche Kompensation geopfert

- Nicht selten wird die Entwicklung einzelner Figuren vernachlässigt, bzw. schädlich verzögert

- Lässt oftmals zerrissene Bauernstrukturen ohne Not zu

- Neigt zu übertrieben optimistischen Stellungsbewertungen

- Teilweise erhebliche Korrekturen der Stellungsbewertung nach Figurenabtausch

- Vereinzelt werden Partien auch positionell in den Sand gesetzt

- Schlechtes Zeitmanagement: Für alternativlose Züge werden teilweise erhebliche Zeit Ressourcen geopfert und in schwierigen Stellungen werden die Züge vereinzelt a tempo gespielt, ohne dass hier das Permanent Brain gegriffen hätte

- Schwache Turmendspiele (der Turm gehört hinter die Bauern!)

- Schwache Figurenendspiele (nur rudimentäre Endspielstrategien vorhanden)

- Oftmals reicht die Rechentiefe in Mittel- und Endspielen einfach nicht aus (fehlende Hashtables)

- Die Gefahr von gegnerischen Freibauern wird oftmals nicht hoch genug bewertet

- Vorteil des Läuferpaars in den meisten Stellungen wird vom Glasgow ignoriert

- Begrenzung der Suchtiefe von max. 19 Halbzügen



Wenn man sich nun die Länge der Positiv- bzw. Negativliste ansieht könnte man glauben, dass der Mephisto Glasgow ein schwaches Programm ist. Doch mitnichten, diese Annahme ist trügerisch. Vielmehr ist es erstaunlich, wie gut der Mephisto Glasgow auf dem Revelation II spielt, trotz dieser ganzen offensichtlichen Schwächen. Wenn doch nur mal der Thomas...

Mit freundlichen Grüßen und der Hoffnung auf eine Antwort

Egbert Rapp




und nun die Antwort von Herrn Nitsche...

Hallo,

leider bin ich gerade unterwegs (nicht ganz in Glasgow, sondern in London) und kann nur kurz antworten. Sehr sehr gerne würde ich wieder ein Schachprogramm entwickeln … auch mit einem meiner Söhne zusammen — Wir teilen alle die gleiche Leidenschaft. Aber es ist so, daß wir aktuell sehr an unserer Mathe App (ww.math-42.com) arbeiten … wir müssen ja auch von etwas leben.

Aber tatsächlich haben wir das Thema (insbesondere mit Raphael, der inzwischen mit Computern besser als ich umgehen kann) schon öfters erörtert … auch neuere Konzepte dazu, etwa noch positioneller (Felderkontrolle, Felderkontrolle, Felderkontrolle) zu spielen etc.

Interessanterweise spielt Nikolai mein Jüngster auch ganz gut (aktuell in Deutschland in seiner Gruppe auf Platz 1) und interessanterweise gibt sein neuer Schachlehrer (GM Michael Richter) exakt die Tips, etwa zur Eröffnung, mit denen ich beim ersten Mephisto angefangen habe (weiß: Damengambit + Minoritätsangriff, schwarz gegen e4 jetzt Französisch … alles gepaart mit positionellen Plänen / Ideen / Konzepten. Insbesondere ruhige Stellungen anstreben und dann aus einer Position der Stärke ‘zuschlagen’

Mal sehen was noch kommt.

Ich freue mich übrigens immer wieder über solch angenehme und konstruktive Zuschriften. Vielen Dank!

Viele Grüße
Thomas Nitsche



Manche Träume gehen ja bekanntlich in Erfüllung, warten wir es ab... ich bin zumindest etwas euphorisiert


Gruß
Egbert
Mit Zitat antworten
Folgende 14 Benutzer sagen Danke zu Egbert für den nützlichen Beitrag:
Belcantor (20.01.2016), Chessguru (19.01.2016), Fluppio (19.01.2016), germangonzo (20.01.2016), Herr Müller (23.01.2016), José (21.01.2016), mclane (19.01.2016), Michael (20.01.2016), pato4sen (19.01.2016), RolandLangfeld (19.01.2016), Sargon (19.01.2016), Solwac (19.01.2016), Theo (20.01.2016), Wolfgang2 (19.01.2016)