Liebe Schachfreunde
Gerne beschäftige ich mich mit den alten Zeiten des Computerschachs. Und für Interessierte lasse ich das hier etwas aufleben. Gut in Erinnerung geblieben sind mir die Einsätze von Schachcomputern an unseren internen Klub-Turnieren. Machen wir also eine Reise zu diesen alten Partien, die ich alle kommentiert hier präsentiere.
Das im Jahre 1986 erste zum Einsatz kommende Gerät war der frisch gekürte Weltmeister
Mephisto Amsterdam, 16bit, 68000 CPU, 12 MHz von Richard Lang.
Hier nun die
2. Partie im Klubturnier Pfäffikon ZH gegen den Turnierfavoriten.
[Event "VM 120'/40"]
[Site "Pfaeffikon (publiziert)"]
[Date "1986.??.??"]
[Round "2"]
[White "Mephisto Amsterdam 16bit"]
[Black "Hugentobler, Patrik"]
[Result "0-1"]
[WhiteElo "2000"]
[BlackElo "2120"]
[ECO "B05"]
[Annotator "Utzinger,K"]
1.e4 Nf6
{Gegen den Turnierfavoriten mit 2120 ELO gab ich dem Mephisto Amsterdam keine Chance, insbesondere nachdem der Computerschach-Weltmeister in der ersten Runde mit Weiss gegen einen 1751 ELO-Spieler schmachvoll schwach spielend verloren hatte.}
2.e5 Nd5 3.d4 d6 4.Nf3 Bg4 5.Be2 c6
{Eine interessante Idee von Salo Flohr. Schwarz ist bereit, das Laeuferpaar aufzugeben mit Lxf3, um dann nach dxe5 Druck auf den weissen e5-Bauern auszuueben und die Entwicklung zu vollenden.}
6.Ng5
( 6.O-O Bxf3 7.Bxf3 dxe5 8.dxe5 e6 9.Qe2 Nd7 {ist die normale Hauptvariante.} )
6...Bf5
( 6...Bxe2 7.Qxe2 dxe5 8.dxe5 e6 9.O-O Nd7 {ist eine ebenfalls noch bekannte Theorievariante, doch Theoriekenner Patrik Hugentobler waehlt die populaerste Antwort} )
7.Bg4
{Mephisto Amsterdam ist noch immer in der Eroeffnungsbibliothek, waehrend P.Hugentobler zum ersten Mal zur Denkarbeit gezwungen wird. Denn so hat noch niemand gegen ihn gespielt. Die ueblichen Zuege hier sind 7.Ld3 oder das unklare 7.e6.}
7...Bxg4 8.Qxg4
{Weiss letzter Buchzug}
8...h6
{Der gefaehrliche Springer soll weichen, bevor er am Koenigsfluegel noch Schaden anrichten kann.}
9.Nf3
{Eine vernuenftige Antwort. In Frage kam auch 9.Se4 oder gar das unklare 9.Dh3}
9...Qd7
{Hugentobler ist stark im Endspiel mit viel Geduld und wuerde deshalb den Damentausch begruessen. Allerdings hinterlaesst der Textzug einen leicht gekuenstelten Eindruck, denn Weiss wird nicht so dumm sein, die Damen zu tauschen und den gegnerischen Sb8 gratis zu entwickeln. So wird die schwarze Dame bald wieder ziehen und ein Tempo verlieren muessen.}
10.Qe4 e6 11.O-O Qc7
{Macht das Feld d7 fuer den Sb8 frei und bereitet die Entwicklung seines Koenigsfluegels vor. Der Computer hat die Eroeffnung ganz ansprechend behandelt und leichtes Uebergewicht erzielt; der Schwarze war mit seiner Stellung nicht ganz zufrieden.}
12.c4
{Gut gespielt: Weiss erhoeht seinen Einfluss im Zentrum und vertreibt den stark stehenden d5-Springer, der nicht auf das uebliche Feld nach b6 ziehen darf.}
12...Nb4
{Das ist aktiver als der Rueckzug 12...Se7, aber ebenfalls mit Nacheilen behaftet, was das Computerprogramm allerdings nicht ausnutzt.}
( {Nach} 12...Nb6 $2 13.exd6 Qxd6 14.c5 Qd5 15.Qf4 Nc8 16.Ne5 {liegt die schwarze Stellung schon fast in Truemmern.} )
13.a3
{!? Schade fuer die verpasste Gelegenheit, mit 13.exd6 die klar bessere Stellung zu erhalten.}
( 13.exd6 Bxd6 14.a3 N4a6 15.c5 Be7 16.Qg4 g6 17.Bf4 Qd8 18.Nc3 {+/-} )
13...d5
{! Diesen das Zentrum schliessenden Zwischenzug, der die wichtigsten Probleme von Schwarz loest, hat Mephisto Amsterdam nicht beachtet.}
( )
14.Qe2 N4a6 15.Bf4
{?! Dies dient keinem ersichtlichen Zweck. Hugentobler erwartete c5 oder cxd5 mit weissem Vorteil. Jetzt nimmt Schwarz nach dem Tausch auf c4 das starke Feld d5 in Beschlag.}
15...dxc4 16.Qxc4
( 16.Nfd2 b5 17.Nc3 Qd7 18.Nde4 {war eine starke Alternative, die einem Computerprogramm des Jahres 1986 natuerlich nie und nimmer in den Sinn gekommen waere.} )
16...Nd7 17.Nbd2
{Logischer scheint 17.Sc3 und das Feld d5 ist unter Kontrolle}
17...Nb6 18.Qc2 Nd5
( 18...g5 19.Be3 O-O-O {waere eine Variante fuer agressiv eingestellte Spieler.} )
19.Bg3 c5
{Eine Befreiungsaktion, bevor der Einengungszug b2-b4 moeglich ist. Der durch den Computer nun eingeleitete Damentausch erleichtert das schwarze Spiel; andererseits ist nicht zu sehen, wie Weiss seine Stellung verstaerken koennte.}
20.Qa4+ Qd7 21.Qxd7+ Kxd7
{P.Hugentobler hat den Damentausch erreicht und muss sich nun vor überraschenden Angriffen keine Sorgen mehr machen.}
22.Rfc1
( 22.Nc4 {um einen Turm auf die d-Linie zu bringen - wo der schwarze Koenig steht - war eine dem Textzug zu bevorzugende Alternative} 22...Be7 23.Rad1 {=} )
22...Rc8 23.Rc4
{?! Die Einleitung zu einem verfehlten Plan mit Turmverdoppelung auf der c-Linie. Mephisto Amsterdam uebersieht vollkommen den 24.Zug von Schwarz}
23...Be7 24.Rac1
{? Hier gab es bessere Alternativen wie 24.dxc5 oder 24.Se4}
24...b5
{! Die fuer den Computer ueberraschende Antwort}
25.R4c2 c4
{Das Blatt hat sich gewendet. Dank der Bauernmehrheit am Damenfluegel und dem "toten" weissen Lg3 steht nun Schwarz besser.}
26.Ne4 Nb8 27.Nc3 a6 28.a4
{Zweckmaessiger scheint der Springertausch im Zentrum 28.Sxd5 exd5 mit nur leichtem schwarzen Vorteil. Immerhin koennte Weiss in der Folge seine Bauernmehrheit am Koenigsfluegel nach genuegender Vorbereitung ebenfalls in Bewegung setzen}
28...Nb4
{Alles scheint sich plangemaess abzuspielen. Der schwarze Sb4 wird sich auf d3 einnisten, der schwarze b5-Bauer rueckt nach b4 vor und es waere nur noch eine Frage der Zeit, bis das schwarze Uebergewicht am Damenfluegel die Entscheidung herbeifuehren wuerde. Voellig ueberraschend gibt nun Mephisto Amsterdam die Qualitaet, laesst sich somit nicht erdruecken, macht die Lage kompliziert und spannend.}
29.axb5
{Diese Ueberraschung haette ich vom ansonsten zaghaft agierenden Mephisto Amsterdam nicht erwartet.}
29...Nxc2 30.Rxc2 axb5 31.Nxb5 Bb4
{Die heutigen (2017) Computerprogramme bevorzugen 31...Sc6 in dieser Stellung.}
( 31...Nc6 32.Rxc4 Na7 33.Rxc8 Rxc8 34.Nc3 Bb4 35.Bf4 Bxc3 36.bxc3 Rxc3 {-+} )
32.Nd6
{?! Nach nur drei Minuten Bedenkzeit eine schwer wiegende Entscheidung, da der auf d6 entstehende Freibauer zur Schwaeche neigt}
32...Bxd6 33.exd6 f6
{Nimmt dem Gegner das wichtige Zentrumsfeld e5}
34.Nd2
{Weiss will wenigstens den c4-Bauern abholen.}
34...Rc6 35.Rxc4 Rxc4 36.Nxc4 Kc6 37.Kf1
( 37.Ne3 Nd7 38.Kf1 Rb8 39.Ke2 Rxb2+ 40.Kd3 {sieht auf lange Frist betrachtet auch nicht besser aus.} )
37...Nd7
{? Kurz vor der Zeitkontrolle eine fuer Patrik Hugentobler unuebliche Ungenauigkeit, denn 37...Kd5 haette hier den Kampf viel rascher entschieden; so kommt es gar zum Partieabbruch und Schwarz muss sich noch lange plagen.}
38.Ke2 Kb5
{!? Etwas besser war 38...Tb8}
39.Kd3 Rc8 40.Ne3 Kb4
{Genauer waren 40...Tb8 oder 40...Kc6}
41.d5
{?! Weiss kann leider nicht still halten, was mit 41.f4 oder 41.Sd1 vorzuziehen war.}
41...Nc5+ 42.Kd2 e5 43.f4
{Etwas ueberraschend, aber durchaus nicht schlecht.}
43...Ne4+ 44.Kd3 Nc5+
{Hier wurde die Partie abgebrochen.}
45.Ke2 Nd7 46.fxe5 fxe5 47.Kd3 Kc5 48.Nf5 $6
{Verhindert Kxd5 wegen der Gabel Se7+. Aber mit 48.Le1 konnte Weiss dem Gegner das Leben noch schwerer machen. Die Erzielung des Gewinns erfordert nun ploetzlich viel Arbeit.}
48...Rb8 49.Kc3
{Wie soll das Programm auch erkennen, dass es wichtiger war, die schwarzen Bauern am Koenigsfluegel zu beseitigen, statt den unnuetzen Bauern auf b2 zu halten. Da die Partie auf jeden Fall verloren war, kann man dem Computer keinen Vorwurf machen. Wie man sieht, muss sich der Turnierfavorit weiterhin gehoerig anstrengen, bis der volle Punkt im Trockenen ist}
49...g6
{! Eine starke Erwiderung}
50.Nxh6 Kxd6 51.Ng4 Kxd5 52.Ne3+ Ke4 53.Ng4 Rc8+ 54.Kd2 Rc5 55.h3 Rd5+ 56.Kc2
{Der weisse Koenig muss bei seinem b-Bauern bleiben.}
56...Rb5 57.Kc3 Ra5 58.Nf2+ Kd5 59.Nd3 Ra1 60.b3 Rg1
{Sieht entscheidend aus, aber ...}
61.Bh2
{! Eine unerwartete Riposte mit einer boesartigen Falle, sollte der Turm auf g2 zugreifen.}
61...Rf1
( 61...Rxg2 62.Bxe5 Nxe5 {?} 63.Nf4+ Ke4 64.Nxg2 )
62.Nb4+
{? Schade, richtig war 62.Lg3 und Schwarz hat es viel schwerer. Das Eindringen des schwarzen Koenigs nach e4 haette Weiss nicht zulassen duerfen.}
62...Ke4 63.Nd3 Rf5 64.Bg1
{Geschickt haelt Mephisto Amsterdam die Einbruchspforten verschlossen}
64...Rf1 65.Bh2 Rf6
{Stark, damit der Turm wieder auf den Damenfluegel schwenken kann}
66.Ne1 Ke3
( {Schneller haette} 66...Rf2 67.Bg3 Re2 68.Kc4 Nf6 69.b4 Nh5 70.Bxe5 Kxe5 71.Nd3+ Kd6 {gewonnen.} )
67.Bg3 Rc6+ 68.Kb2 Rc8
{Weiss geraet langsam in Zugzwang und gegen das weitere Vorruecken des schwarzen e-Bauern ist der Computer machtlos}
69.Nc2+ Ke2 70.b4 e4 71.Bf4 Nb6
{Nun eilt gar noch der Springer zu Hilfe, der je nach den Umstaenden auf c4 oder d5 opimale Felder findet.}
72.Ne3 Kd3 73.Kb3 Rc3+ 74.Ka2 Nc4
{Das Ende naht ...}
75.Nd5 Rc2+ 76.Kb3 Rxg2 77.b5 Rb2+ 78.Ka4 e3 79.Nb4+
{Nach dem naechsten Zug von Schwarz habe ich die Partie abgebrochen, da der Schwarzspieler auch die zweite Zeitkontrolle unbeschadet ueberstanden hat. P. Hugentobler war voll des Lobes ueber die Leistung von Mephisto Amsterdam, und nach diesem Kampf erhoehte sich auch bei den kuenftigen Gegnern der Respekt vor dem Elektronenhirn. Resultatmaessig konnte man natuerlich nicht zufrieden sein, denn 0 Punkte aus 2 Partien verheissen nichts Gutes fuer den weiteren Turnierverlauf.}
79...Ke4 0-1